Verschickungskinder auf Langeoog – Das Protokoll einer Spurensuche

Unsere Verschickungen als Kinder nach Langeoog waren keine Kur, sondern eine Tortur. Im vergangenen Jahr konnte ich über unsere Erlebnisse während des wochenlangen Aufenthalts auf der Nordseeinsel in Chrismon schreiben. Erstmals reiste nun eine kleine Delegation unserer vierzigköpfigen Langeoog-Gruppe zur gemeinsamen Aufarbeitung auf die „Kinderinsel“. Neben dem Besuch einzelner ehemaliger Heime, recherchierten wir auch im Heimatmuseum und nahmen an einem Empfang bei der Bürgermeisterin teil.

In den vergangenen zwei Corona-Jahren entwickelte sich unsere Verschickungskinder-Gruppe insbesondere durch den Austausch per E-Mail und Videochats. Für drei Tage Mitte Februar besuchten 13 von uns die Insel, auf die sie als Kinder verschickt worden waren und bis zu sechs Wochen aushalten mussten. Viele wussten gar nicht wie ihnen geschah und dachten lange, ihre negativen Erlebnisse seien Einzelschicksale gewesen. Inzwischen sind wir alle eines Besseren belehrt.

Viele von uns hatten lange versucht allein Antworten zu bekommen und verzweifelten bei der Recherche. Doch diesmal fühlten wir uns gemeinsam stark. Zudem hatten wir die Zusagen unterschiedlicher Träger der ehemaligen Kinderheime im Gepäck. Am Freitag und Sonnabend sollten sich uns ein paar Türen öffnen. Wegen der herannahenden Orkane (Zeynep, Ylenia und Antonia) reisten acht von uns spontan schon am Mittwoch, dem 16. Februar an, da der Fährverkehr für Donnerstag eingestellt war. Diese Unwetter sollten uns nicht stoppen – schließlich hatten wir monatelang auf diesen Besuch hingearbeitet.

So erlebten wir Erstlinge einen programmfreien stürmischen Tag. Ich nutzte die Zeit, um schon mal vorab die Wege zu checken, die wir zwischen den Programmterminen zu gehen hatten. Die Übrigen erreichen die Insel am Freitag und die Letzten strandeten am Sonnabendvormittag.

Auch mit im Gepäck hatten wir unsere Erklärung zur persönlichen Aufarbeitung und Aufklärung, die wir vorab in der Gesamtgruppe abgestimmt haben, und die von der jeweiligen Delegation vor Ort unterschrieben und unseren jeweiligen Gastgebern überreicht wurde.

Hier das Protokoll unserer Spurensuche:

Erster Termin im Inselhospiz

Unser erster Termin führt uns ins ehemalige Hospiz Kloster Loccum, kurz Inselhospiz, das auf Langeoog 1985 100-jähriges Bestehen feierte. Das Haus hat eine bewegte Geschichte hinter sich, heute dient es als evangelische Familienferienstätte für bedürftige Familien, die sich eine Reise allein nicht leisten könnten. Freifinanziert und gemeinnützig betrieben von der Inneren Mission in Hannover. Leiter Thomas Behncke führt uns selbst herum, da seine Mitarbeiterin wegen des Sturms die Insel mit der letzten Fähre verlassen hatte. Der Begriff Hospiz ist etwas verwirrend, erklärt sich aber aus der wechselvollen Geschichte des Hauses: „Hospize waren früher christliche Herbergen für Mönche“, erläutert Behncke, der das Haus seit zwanzig Jahren betreut. Das Gelände war früher komfortabel zu erreichen: Alte Aufnahmen von Schienen zeugen davon, dass anfangs sogar die Langeoog-Inselbahn bis fast ans Gebäude führte.

Zur Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg wissen wir: Nach der Kapitulation musste die deutsche Marine das Hospiz räumen und blieb den geforderten Schadensersatz und rückständige Mieten in Höhe von 20.000 RM schuldig. Aber immerhin wurden 63 Fensterscheiben auf Kosten der Militärverwaltung repariert. Am Tag der Räumung am 22. Mai 1945 wurde ein Genesenen-Lazarett eingerichtet. Schon im Sommer 1946 zogen auf Initiative des Nothelferbundes etwa 50 Kinder ins Loccumer Hospiz ein. Der Nothelferbund bestand bis 1952. Danach wurde das Heim von der Landesherrin der Inneren Mission betrieben; die Betreuung von bis zu 80 Kindern gleichzeitig war möglich. Außerdem lebten im Westflügel des Gebäudes von 1947 bis 1957 durchgehend 13 Flüchtlingsfamilien.

Der Ostbau wurde umgebaut und im Mai 1968 eröffnete die heutige evangelische Familienferienstätte Hospiz Kloster Loccum. Der Trubel von Familien mit Kindern haucht dem alten Gemäuer im Sommer Leben ein.

Angesichts der kühlen Atmosphäre, die jetzt beim Rundgang herrscht, ist es nur schwer vorstellbar, dass hier jeden Sommer Kinderlachen durch die Räume hallt. Lange Flure, blasse Wände, Türrahmen und Treppengeländer waren früher sicher anders, aber die Sterilität bleibt. Von Oktober bis April steht das Haus komplett leer. Ob nicht Flüchtlingsfamilien das leerstehende Gebäude als erste sichere Ankunft nutzen könnten, denken einige von uns und sprechen das Thema an. Aber die Diskussion darüber mit dem Leiter ist nur kurz, der Aufwand sei zu groß.

Zum Abschluss überreicht unsere kleine Delegation Leiter Behncke, der noch ein paar Jahre auf der Insel vor sich hat, unsere unterschriebene Erklärung. Im Gegenzug erhalten die beiden Verschickungskinder die Jubiläumsexemplare von 1985. Ansonsten löste der Besuch keine besonderen Empfindungen aus: Weder bei Winrich Raschkowski, der 1952 als Fünfjähriger hier war, noch für Heike Gundlach, die mit sechs Jahren hier vom Wegschwimmen träumte – für sie ist mit diesem Besuch das leidvolle Thema abgeschlossen.

https://www.kloster-loccum.de/pages/kloster/haus_loccum_auf_langeoog/index.html

Das ehemalige Friesenheim

Nächste Station: Wir stapfen auf den großen Betonplatten den Süderdünenring entlang – wie einst die Kindergruppen vom Bahnhof. Viele von uns erinnern sich nicht an die genaue Adresse ihres damaligen Heimes, aber diese außergewöhnliche Aneinanderreihung der Betonplatten auf dem Weg ist für viele von uns eine bleibende Erinnerung. Die besonderen Platten gehörten zu einem Flughafen II. Ordnung, der im zweiten Weltkrieg gebaut und offenbar nie so ganz fertig gestellt wurde. Auf dem Friedhof hinter dem Lale Andersen Haus erinnert eine Gedenkstätte an die 113 russischen Zwangsarbeiter, die den Flughafen bauen sollten.

Der Ring um den Flughafen nebst Abstellflächen bestand aus eben diesen großen Betonplatten. Nach dem Krieg sprengten die Briten die Einrichtungen und machten sie dem Erdboden gleich. Im Bereich zwischen Hafen und Ort, im „Wäldchen“, sind die ausgedehnten Betonflächen der ehemaligen Rollbahnen aber noch gut sichtbar.

In der Langeoog-Klinik der Arbeiterwohlfahrt empfängt uns am Freitagnachmittag im Haus Ostwind der Leiter der Einrichtung, Christopher Zörner. Hier, am Süderdünenring 10-14 war früher das Friesenheim, Um Süd 24. Auf der Suche nach dem einprägsamen Wandmosaik mit der Sonne fotografieren wir die Räumlichkeiten, alte Fliesen und das Außengelände – vor allem für all jene, die bei diesem Termin nicht dabei sein können.

 

https://langeoogklinik.de/index.php?id=441

Bei seinem Extratermin am Sonnabend wird Manfred Gräber dem Leiter zu dessen Überraschung ein paar Fotos vom alten Friesenheim zeigen und sie lösen auch das Rätsel, wo das einprägsame Wandmosaik abgeblieben ist: Wo einst eine Mosaiksonne glänzte, schließt sich heute die Bürowand von Herrn Zörner an. Darüber hinaus zeigen die Fotos, dass laut Herrn Zörner, ein anderer Anbau nicht erst in neuerer Zeit hinzukam, sondern schon immer vorhanden war. Dort ist der Speisesaal beherbergt. Diesen L-förmigen Erweiterungsbau, der das alte Gebäude umschließt und integriert, bekam das Friesenheim Mitte der 70er. Herr Zörner bekam Kopien unserer alten Fotos des Gebäudes.

Manfred Gräber, der als Zehnjähriger 1970 von Bremerhaven hierher verschickt worden war, erkannte nur die Turnhalle und den Speisesaal im alten Gebäude wieder. Sein ehemaliger Trakt mit Schlafsaal und Waschraum wurde abgerissen, vermutlich im Zuge des Erweiterungsbaus. Der Speisesaal rief Erinnerungen an den Essenszwang hervor. Noch heute wirken die langen Gänge im Gebäude bedrückend. 1967 waren fünf Kindergärtnerinnen und sieben Kinderpflegerinnen beschäftigt. Bei einer Belegung von etwa 90 Kindern. Überbelegungen kamen oft vor.

Empfang im Rathaus

Nach dem Tag der ersten Aufarbeitung in ehemaligen Heimen folgten wir abends der Einladung ins Rathaus. Schon auf die erste Anfrage im Herbst, sagt Bürgermeisterin Heike Horn ihre Unterstützung zu und hielt Wort. Trotz des Sturms empfing sie unsere, inzwischen durch die Freitagsfähren angewachsene Gruppe am Freitagnachmittag im Rathaus. Mit vor Ort waren auch Petra Wochnik, Bloggerin von Ostfriesland Reloaded, die für das Lokalmagazin „De Utkieker“ recherchiert (der Artikel erscheint in der kommenden Ausgabe), und Svenja Koch, Pressevertreterin der Caritas der Diözese Hildesheim, die unseren Sonnabendtermin betreut.

Höhepunkt der eineinhalbstündigen Aussprache war sicherlich das Vorlesen der Briefe, die Katrin Sander, die 1969 als Fünfjährige im Bodelschwinghaus war, mitgebracht hatte. Zwar existiert das Kinderkurheim des Diakonissen-Mutterhauses Münster/Westfalen in der Hauptstraße 9 / Mittelstraße 11 nicht mehr. Nach einem bewilligten Antrag auf Erneuerung stehen dort heute Ferienhäuser.

Doch die 58-Jährige, die heute in Varel lebt, hat noch ihre Erinnerung und eine damalige Korrespondenz. Darin beschuldigt Katrins Vater die Heimleitung, seine Tochter während ihres Aufenthalts vernachlässigt und gezüchtigt zu haben. Die Leitung, Oberin Hannelore Skorzinski, die ihm immerhin namentlich bekannt war, konterte damals schroff zurück. – Lange später, im Jahr 2019, wird sie zusammen mit noch drei weiteren lebenden Diakonissen in Wetzlar in einer Ausstellung über das Wirken der Königsberger Diakonissen der Barmherzigkeit gewürdigt.

Dazwischen schwingt die Geschichte der Traumata stellvertretend für uns alle. Viele haben Tränen in den Augen, auch, weil der Brief von Katrins Vater eines der wenigen Zeugnisse dafür ist, dass es auch Eltern gab, die sich gewehrt haben. Auch die Bürgermeisterin wirkt angefasst und notiert sich weitere über den Tisch gerufene Namen von ehemaligen Beschäftigten aus anderen Heimen. Mal sehen, was sie tun kann – oft steht allerdings schon der Datenschutz unserem Ansinnen entgegen, weitere Namen oder Kontaktdaten zu erhalten.

Caritas-Häuser im Süderdünenring

Am Sonnabendmorgen schafften es endlich die letzten auf die Nordsee-Insel und dank der spontan möglichen Umstellung der Vororttermine auch noch rechtzeitig zum Termin in die Caritas-Häuser im Süderdünenring: Haus Sonnenschein, Dünenheim und Flinthörnhaus stehen auf dem Besuchsprogramm, je Haus war etwa eine halbe Stunde Rundgang eingeplant.

Wie schon die letzten Tage kämpfen wir uns gegen den Wind zum Treffpunkt. Draußen im Sturm erwartet uns Caritas-Pressesprecherin Svenja Koch und führte uns zur Begrüßung ins Haus Sonnenschein, heute eine Mutter-Kind-Klinik. Auf der Website zur Mutter-Kind-Klinik Langeoog ist nichts zu den einzelnen Häusern oder gar Geschichtliches zu den einstigen Kinderkuren zu finden. Aber wir hatten vorab Folgendes recherchiert: Am Süderdünenring 61 weihte der Caritas-Verband am 9. Juni 1963 das Haus Sonnenschein ein. Laut einer Karteikarte vom 28. Oktober 1964 aus dem Archiv des Deutschen Caritasverbandes wird das Gründungsjahr 1946 angegeben.

108 Betten stehen damals für die Altersgruppe von zwei bis 14 Jahre zur Verfügung. Angestellt sind 13 weltliche Erziehungskräfte plus drei weltliche Wirtschaftskräfte, Ordensschwestern gibt es keine. Die Leitung liegt damals bei der Jugendleiterin Irmgard Krause. Träger ist die Diözese Hildesheim. Bei der Suche nach Informationen zur Leiterin finden sich wie auch bei anderen Namen seitenweise Todesanzeigen aus der ganzen Bundesrepublik. Nähere Bestimmungen ohne verlässliche Ortsangaben sind aussichtslos.

Früher soll an dieser Adresse auch das Wittdün-Haus gewesen sein.

Das erste Haus Sonnenschein war übrigens eine ehemalige Wehrmachtsbaracke auf dem ehemaligen Flughafengelände. Sie existiert heute nicht mehr.

Vorbei an dem großen Eingangsschild des heutigen „Haus Sonnenschein“ geht es durch einen Art Windfang, der neu ist. Den dahinter liegenden Flur mit den großen Glasscheiben links und rechts erkenne ich sofort. Ob die Uhr damals schon an der Wand hing? Links herum geht es in den Speisesaal, der war früher, glaube ich, woanders.

Klinikleitung Andrea Eberhardt-Soumagne und Yvonne Pingel, eine psychosoziale Fachkraft (für den Notfall), empfangen uns dort. Mir sticht sofort der unangenehme Geruch von Großküchen in die Nase – eine Mixtur aus Hagebuttentee, Essen und Putzmitteln – trotz Maske. Ich kann kaum atmen. Die herzliche Einladung zu den Naschereien und Getränken kann ich nicht annehmen. Aber die anderen riechen nichts und greifen zu.

Andrea Eberhardt-Soumagne, seit 2017 Leiterin der Caritas-Häuser auf Langeoog, begrüßt uns herzlich und will länger ausführen, dass heutzutage alles Erdenkliche getan würde, um Müttern und Kindern einen erholsamen Kuraufenthalt zu gestalten. Ich fühle mich berufen, sie zu unterbrechen, denn das ist ja nicht unser Thema. Davon gehen wir heute alle aus. Wir wären alle ungeduldig gespannt auf die Besichtigungen, versichere ich ihr und entschuldige mich, dass ich nichts essen und trinken kann. Mir macht der schlechte Geruch zu schaffen. Das war sichtlich neu für sie.

Doch bevor wir ausströmen, nutzt Svenja Koch noch die Gelegenheit, die offizielle Entschuldigung des Diözesan-Caritasdirektors Achim Eng laut vorzutragen. – Dies bedeutet einigen von uns viel – wenigstens eine kleine Genugtuung.

Haus Sonnenschein (Caritas), heute Mutter-Kind-Klinik

Während die anderen bei Getränken und Naschereien sitzen bleiben, auch um mit der Journalistin Petra Wochnik, freie Autorin für den Utkieker, zu sprechen, wandern wir begleitet von Mayk Opiolla von den Langeoog News durchs Haus. Sein Bericht dazu ist weiter unten verlinkt.

Mein Ziel: mein ehemaliges Zimmer wiederzufinden. Am Ende des Flurs steigen wir über eine Treppe hoch in den zweiten Stock. An die Treppe kann ich mich nicht erinnern, aber die Räume rechts vom Flur kommen mir bekannt vor. Auch wenn die Zimmer heute komplett umgebaut sind, so ist doch der Blick aus den Fenstern ähnlich wie früher. Doch war da nicht eher Sand und ein Wäldchen zu sehen statt Betonplatten? Am Ende der Etage liegt ein großer Raum, dieser neue Anbau war früher definitiv nicht hier.

Später klärt sich anhand meiner damals geschriebenen Postkarte die Sache auf. Auf der Bildseite hatte ich mein Zimmerfenster markiert. Aber das war im identischen Gebäude zur anderen Seite, deshalb kam mir auch der Treppenaufgang fremd vor. Aber die Hauptsache ist, dass ich jetzt weiß, wo ich war – viele andere sind noch auf der Suche.

Dünenheim (früher DRK heute Caritas)

Unser nächster Gang führt uns durch den Wind ins nahegelegene Dünenheim. Die Recherche zu diesem Heim war etwas kompliziert, da es früher auch eine Wehrmachtsbaracke am ehemaligen Flugfeld gab, die so hieß, aber nicht mehr existiert. Zudem gab es einen Trägerwechsel.

Im September 1966 weihte damals das Deutsche Rote Kreuz das neue Dünenheim ein. Seit dem 1. August 2013 unterhält der Caritasverband hier ein Mutter-Kind-Kurheim. (Dünenheim ab August unter neuer Flagge | Langeoog Aktuell – Langeoog News).

Die Räume in dem roten Backsteinbau sind ähnlich modernisiert wie im Haus Sonnenschein. Nur der Innenhof, den es auch auf alten Aufnahmen schon gab, wirkt hier besonders trostlos.

Bei der Führung durch das Dünenheim entdecken Petra Heggemann und die erst heute Morgen angereiste Claudia Taebel eine Gemeinsamkeit: als Fünf- und Sechsjährige waren sie genau zur gleichen Zeit hier. Zudem verbindet beide die Erfahrung isoliert im Krankenzimmer zu liegen – nur an ein Dachfenster in den Himmel erinnern sich die beiden. Da ist es. Bei Petra löst der Anblick einen Flashback aus. Als ihr die Tränen in die Augen schießen und sie nur noch raus will, fängt die begleitende Psychologin Yvonne Pingel den Ausbruch auf – zum Glück erfolgreich.

Das Flinthörnhaus (Caritas)

Als letztes Heim steht das (neue) Flinthörnhaus auf dem Programm. Es wurde als erstes neu erbautes Gebäude am 10. Juni 1956 von der Inneren Mission eingeweiht. Es hatte 17 Schlafräume mit fünf bis acht Betten, vier Waschräume mit jeweils acht Waschbecken und drei Duschen sowie vier Toilettenräume mit drei bis vier Toiletten. Zudem gab es sechs Tagesräume, zwei Räume als Krankenstation mit extra Waschbecken und Toilette. 1965 berichtete das Landesjugendamt Hannover, dass das Haus mit 135 Kindern statt der vorgesehenen 120 bei nur vier Fachkräften deutlich überbelegt war. Daran änderte sich auch unter wechselnden Leitungen nichts, bis Ende der 60er Jahre die Aufnahmekapazität auf 108 Kinder reduziert wurde.

Über die Missstände schrieb die Erziehungshelferin B.B. am 4. März 1975 an das Regierungspräsidium Hannover.

Die tristen Waschbetonplatten draußen könnten noch aus der damaligen Zeit stammen. Aber ob es die große Turnhalle schon früher gab? In diesem Haus schaut sich Monika Pfeil besonders gründlich um. Die Oldenburgerin war im Frühjahr 1971 als Neunjährige hier. Aufmerksam fotografiert sie die geschwungene Galerie im Eingangsfoyer und die 50er-Jahre-Deckendeko mit Lampen. Im zweiten Stock ist es dann soweit. Nach dem endlos erscheinenden Flur, der für Kinderaugen noch größer gewirkt haben muss, erinnert sich Monika in einem der Zimmer, hier gewesen zu sein und der Blick aus dem Flurfenster klärt ihre letzten Zweifel. Die Reise hat sich für sie gelohnt.

Zum Ende des Vormittagstermins treffen wir uns alle wieder im Speisesaal und überreichen wie bei allen Terminen unsere Erklärung, die nun noch ein paar mehr Unterschriften aufweist und bedanken uns für die Chance der Heimortbesuche.

Im Gegenzug verspricht Leiterin Andrea Eberhardt-Soumagne, die unser Rundgang auch berührt hat, dass Verschickungskinder, die sich melden, jederzeit willkommen sind.

Draußen fällt uns ein neues Schild auf: Kinderkurstraße heißt der Weg, der vom Süderdünenring zu den Heimen führt – hier wäre doch eine Hinweistafel auf unsere Leidenszeit denkbar.

Besuch im Heimatmuseum Seemannshus

Als letzter Termin steht der Besuch im Heimatmuseum „Seemannshus“ an. Erhard Nötzel, der ehrenamtliche Leiter, begrüßt uns im urigen Trauzimmer.

Die Glasvitrine, an die sich Heike Gundlach negativ erinnert, ist nicht mehr mit Werbebildern zur „Kinderinsel“ bestückt. Wo die Materialen sind, weiß Nötzel, der erst seit fünf Jahren auf Langeoog lebt, nicht. Richtig stolz zeigt der ehemalige Journalist sein digitales Archiv. Für fast jedes Heim gibt es einen Fotoordner, der einfach per Klick auf dem Bildschirm erscheint. Besonders Hannelore Speer, die mit zwölf, dreizehn Jahren 1964/65 nach Langeoog verschickt worden war, ist daran interessiert. Denn die Bremerin weiß noch nicht, in welchem Heim sie war. Nach dem gemeinsamen Bildschirmstöbern und einem späteren Spaziergang ist sie nun sicher, dass sie damals im Haus Hapke war.

Ein weiteres Erfolgserlebnis hat Mechtild E., die im Juni 1961 im ehemaligen Dünenheim war. Mit der Hilfe von Erhard Nötzel findet sie durch die Sichtung der digitalen Landkarten den Standort ihres Heimes am Rand des ehemaligen Flugfeldes. Tags drauf wird die Hannoveranerin durch die Vermittlung von Pastoralreferentin Susanne Wübker sogar mit einer Zeitzeugin telefonieren.

Was ins Wasser fiel

So erfolgreich die Heimbesuche auch abliefen, es gab auch Programmpunkte, die wir nicht umsetzen konnten. Der Besuch des Wellenbads fiel leider ins Wasser – beziehungsweise eben nicht, denn das Becken war wegen Reparaturarbeiten leer gepumpt.

Die Kutschfahrt am Sonnabendnachmittag, die der finale Höhepunkt für uns werden sollte, mussten wir wegen des Sturms absagen. „Die Plane bietet dem Wind zu viel Widerstand“, erklärt Bodo von Uwes Pferdemobil, dem einzigen Kutschfahrtunternehmen dessen Pferde ganzjährig auf der Insel bleiben und nicht wie die anderen im Winter aufs Festland gebracht werden. Eigentlich war für alle noch Betriebspause bis März, aber Bodo hätte den Pferden gern den Auslauf mit uns gegönnt. Bei meinem Aufenthalt 1975 brachen bei der Kutschfahrt die Pferde Banjo und Wildfang aus. Meine abenteuerliche Geschichte kommentiert Bodo mit dem Hinweis, dass er die beiden Pferde noch kannte. Inzwischen seien sie tot – ob er geflunkert hat?

Austausch und Danksagung

Abends tauschten wir uns im stilvollen Frühstücksraum (Klimt grüßte von den Wänden) des Hotels Dünenläufer aus, da das Restaurant renoviert wurde. Herzlichen Dank für die erstklassige Bewirtung und liebevolle Betreuung.

Unser Dank gilt auch insbesondere Pastoralreferentin und Seelsorgerin Susanne Wübker, die ab Freitag stand-by vor Ort war, um eventuell getriggerte Flashbacks aufzufangen.

Im Nachgang – Verlorene „Schwester“ wiedergefunden

Ein besonderes Erfolgserlebnis stellt sich am Abend nach der Heimfahrt bei Claudia Taebel und Petra Heggemann ein. Bei der Führung durch das Dünenheim hatten die beiden ja entdeckt, dass sie zur gleichen Zeit hier waren. Claudia fuhr mit mir nach Hamburg zurück und ich erinnerte sie an ihre Fotos aus der Verschickungszeit, die sie mit der Gruppe geteilt hatte. Abends schickte ich zwei Fotos, auf denen ich Petra vermutete, per WhatsApp an sie. Aber erst am nächsten Abend als sie alle Fotos in der Cloud anschaute, entdeckte Petras Mutter sie tatsächlich auf dem Foto am Strand wieder – sie hockte direkt vor Claudia. Seither fühlen sich die beiden, als hätten sie „eine verlorene Schwester“ wiedergefunden“.


[Bilder: Claudia Taebel]

Alles in allem, war es trotz des Orkans – der eigentlich unser kleinstes Problem war – eine sehr bewegende und erfüllende Reise für uns Langeooger Verschickungskinder.

Was uns jetzt noch fehlt, ist der Austausch mit ehemaligen Heimbeschäftigten. Nach der Berichterstattung meldete sich Olaf Bude vom Kleidungsladen „Buddelei“. Seine Mutter und deren Zwillingsschwester arbeiteten als „gute“ Kindergärtnerinnen. Die über Neunzigjährige war empört über die Berichte zu unserem Besuch (siehe unten). Wir freuen uns auf einen baldigen Austausch auf der „Kinderinsel“ – vielleicht an dem runden Tisch im Rathaus.

Marina Friedt

Trauriger Moment zum Jahresende

Petra, die auf Langeoog ihre „Schwester“ wiederfand, hatte als Fünfjährige in der Kur eine Aversion gegen Ärzte entwickelt und suchte trotz ihrer Beschwerden viel zu spät Hilfe. Im Sommer wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Während wir am dritten Septemberwochenende den vierten bundesweiten VerschickungskinderKongress in Bad Sassendorf erlebten, lies sie sich taufen. Sie starb am Freitag, dem 28. Oktober 2022, um 10.30 Uhr im Kreis ihrer Familie. Ich war auf dem Weg nach NRW, konnte mich aber nicht mehr von ihr verabschieden – es war das wärmste Wochenende im September mit 30 Grad und Tränen auf dem Balkon meiner frisch verwitweten Mutti.


Zur Hintergrund-Info zu meiner „Doppelexpertise“ als Verschickungskind und freie Journalistin meinen Text aus dem Juni 2021 in Chrismon zu Langeoog:
https://www.marinafriedt.de/das-essen-ist-aus-schlamm-gemacht/

Die Borkumer Erklärung, die im November 2021 abgestimmt wurde: https://verschickungsheime.de/borkumer-erklaerung-der-verschickungskinder/

Gefreut haben wir uns über erste Presseberichte zu unserer Reise, die uns weitere 20 Mitglieder brachte. Wir sind jetzt um die 60 Menschen aus der gesamten Bundesrepublik.

https://www.heimatverein-langeoog.de/aktuelles

https://www.evangelisch.de/inhalte/197331/19-02-2022/verschickungskinder-leid-kurheimen-darf-nicht-vergessen-werden

https://www.langeoognews.de/langeoog-aktuell/aktuelles/ehemalige-verschickungskinder-erinnern-sich/

https://www.de-utkieker.de/?p=7296

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